Donnerstag, 12. August 2010





Freitag, 9. Juli
Wildschönau

Nach anstrengenden Autobahnkilometern erreichen wir das Inntal. Es ist fast 19.00 Uhr und wir fürchten, wie immer, kein Quartier zu finden. Ich sehe ein Straßenschild, das auf die Wildschönau hinweist, an die ich mich aus einem Fernsehbeitrag erinnere. Die Straße kraxelt den Berg hinauf, lässt die dicht befahrene enge Autobahn Richtung Innsbruck, das kochende wirbelnde Wörgl hinter sich und mit ihm die Hitze, die uns die ganze Fahrt über begleitet hat.Die Strecke durch das sogenannte deutsche Eck war mühsam, die Autobahn nach der mittlerweile komfortabel ausgebauten Westautobahn armselig mit halsbrecherischen Ausfahrten. Ramponierte Leitplanken an den Seiten und in der Mitte um den schäbigen Grünstreifen künden von der Sparsamkeit der Bundesrepublik.
Wir erreichen den ersten Ort des Hochtales Niederau und werfen uns auf die ersten Appartementangebote. Bereits beim 2.Anlauf werden wir fündig. Es ist das Haus eines Schilehrers. Die Tochter zeigt uns die kleine Wohnung im Dach und wir sind glücklich.
2 Vitrinen im Flur sind brechend voll mit Pokalen, die der ehemalige Rennfahrer dereinst gewann. In dieser Häufung verlieren die Pötte völlig ihren Wert und wirken wie blechernes Unkraut, einer hässlicher als der andere.
Ein erster Rundgang offenbart einen hübschen Ort in einer fantastischen Lage mit überraschend üppiger Infrastruktur, 3 Supermärkten und gepflegtem Äusseren. Touristen aus Holland und allen Teilen Schlands bewohnen die zahlreichen Hotels, Pensionen und Zimmer. Jeder, dem wir begegnen, grüßt.
Jugendliche knattern mit ihren Mopeds durch die Straßen, in dünne Knochen umflatternden T-shirts und behelmt. 2 Mädchen sitzen an einem Infopoint, fummeln an ihren Handys und wechseln belanglose Worte. Wie in jedem Dorf.
In einer englischer Tourismusbroschüre lese ich von einer Emigrantengruppe, die die Wildschönau einst verließ, um in Brasilien ihr Glück zu versuchen. Sie entflohen einer von Hungersnot und Elend gezeichneten Heimat und kamen im südamerikanischen Regenwald wieder auf die Beine. 2 Töchter des Anführers sind wieder zurückgekehrt und leben noch in der Wildschönau. Im brasilianischen Regenwald hatten sie die Tiroler Traditionen weiter gepflegt und sogar ihren Dialekt beibehalten. Müssen die Indianer gestaunt haben. Ohne Fernsehen ermüden wir auf dem Balkon mit einem Bier, einer Zigarette, während der Abendstern langsam untergeht und die Kuh muht.


Samstag, 10. Juli
5 Uhr und 20 Minuten

Muh am Abend, Kikeriki am morgen. So soll es sein auf dem Land. Beim Tippen schmerzt meine Fingerkuppe, die ich mir vorgestern in der Fahrradluftpumpe eingeklemmt habe. Ich sage nicht „eingezwickt“ (österr.), ebenso wie ich mir von einem Schaffner im Zug nicht die Fahrkarte „zwicken“ sondern entwerten lasse. Das kann man mir durchaus als Zicken auslegen.
Muh am Abend konkurrierte noch heftig mit dröhnenden Mopeds und zahlreichen Autos, die im Tal recht laut widerhallen und einen irgendwie umkurven. Angenehm, das Muh, das dem wirklichen Sound ebenso wenig gerecht wird, wie das Kikeriki, das jetzt schon an die halbe Stunde ohne Unterlass das Heller werden begleitet. Das ist ein etwas trauriger Gesang, dessen Rhythmus zwar Kikeriki, aber dessen Klangfarbe etwas ganz anderes ist. Dem Hahn hier fehlt jede Hysterie, er scheint selbstversonnen sich selbst zu lauschen. Ein zweiter etwas kreischenderer, möglicherweise kleinerer Geselle fällt ihm wie ein akustischer Schatten in den Ruf, begleitet ihn leicht zeitversetzt. Und etwas weiter weg mischt noch einer mit. Das ist der Blues der Wildschönau, erhaben vorgetragen auf einem Misthaufen oder vor einem Hühnerstall aus Holz. Er betrauert die Herrschaft des Automobils, das die einst ungebrochene Dominanz von Muh, Mäh und Kikeriki für immer, wie es scheint beendet hat. Dem Menschen fehlte ja die Stimme. Das bisschen Reden, was die Tiroler so zusammenbrachten, füllte doch kein Tal aus, so mickrig leise, ohne Eleganz, ohne Melodie, ohne Dramatik. Bis die Blasmusik kam. Das war ein erster Einschnitt, aber nur temporär auffällig. Die Kirchenglocken, ja. Das konnte nerven, war aber absehbar, abhörbar und regelmäßig.
Der wirkliche Angriff auf Muhmähkikeriki kam mit der Erfindung des Autos, des Verbrennungsmotors. Seither dröhnen Limousinen, Kleinwagen, Lastwagen, Traktoren, Pistenraupen, Quads und anderes motorisiertes Teufelszeug in die Bergwelt hinein, sind bis auf ferne Gipfel, bis in tiefe Wälder hinein zu hören. Ich bin sehr froh, dass der Hahn die einzig stille Zeit nutzt, seine einstige akustische Alleinherrschaft in Erinnerung zu rufen und uns eine Welt vorzuführen, deren Laute noch ausschließlich seltsamsten, schönen, wilden Kreaturen der gewaltigen Evolution des Planeten entstammten. Während die Autos, wie leider nur sehr wenige wissen, von einer außerirdischen Spezies eingeschleuste Viren sind, die diesem alteingesessenen Leben der Erde, inclusive seinem auffälligen intelligent scheinenden Highendprodukt Mensch seinen Lebensraum rauben sollen. Diese Aliens ernähren sich ausschließlich von Asphalt und Altöl. Wenn nun bald ein großer Teil der Erdoberfläche zu Straßen gemacht und asphaltiert ist, werden sie ihren Wegbereitern, den Autos folgen und ihren neuen Lebensraum besiedeln. Den brauchen sie dringend, haben sie ihren Heimatplaneten im Sternbild Schwan doch völlig ausgesaugt und in entsetzlichen Streitigkeiten und Schlachten zerrissen.
Dann haben Muhmäkeriki für immer ein Ende gefunden in der Wildschönau, es sei denn sie haben einen Plan, den sie sich gerade lauthals miteinander aushecken.

Mit der Markbachjochbahn auf das Markbachjoch
Es werden über 30 Grad Celsius erwartet und wir flüchten nach oben, wo es etwas frischer sein soll. Mit viel Aufmerksamkeit und höllischem Geschick gelingt es uns, den schmalen Gehsteig so zu benutzen, dass uns keines der vorbei rasenden Autos (siehe oben) tötet oder noch dazu einen Arm abreisst. Die stickigen Kabinen heben uns aus dem Hochtal, während wir schon mal vor gegart werden.Die Bergstation liegt auf ca. 1500 Meter Seehöhe.
Der kleine Gipfel ist eine Pilgerstätte für Paragleiter, die sich in cooler Manier einfinden, wie von einer Rolltreppe permanent angeliefert. Mann und Frau begrüßt sich mit Handschlag, man fliegt allein oder seltener im Tandempack. Das Abflugritual ist immer dasselbe. Erst kommt man mal an, setzt den dicken Rucksack ab und grüßt Bekannte, Small-Talks über Winde und was weiß ich.
Dann wird der Schirm ausgelegt und mit hochkonzentrierten Blicken begutachtet, jede einzelne der 872 Leinen und jede Falte im Gewebe. Einmal lässt man den Flattermann hoch in den Wind schnellen. Der entfaltet sich prasselnd und knallt wieder auf den Boden. Nun verbindet der Flieger seine Seele, den Körper und sein Schicksal mittels Karabinern mit dem bunten Schirm und steht bereit. Die meisten sind dem Schirm zugewandt, wenn er denn steigt. Passt der Wind, drehen sie sich zum Abgrund und trippeln leichtsinnig darauf zu. Ein kleiner Ruck und sie plumpsen in ihren Sitzsack, der sie auf den thermischen Aufzug hebt. Manchmal dreht ein ungünstiger Wind den Schirm und der Startvorgang wird abgebrochen.




Wir lassen das Gewusel zurück und beginnen eine kleine Wanderung zur Kashütte über den Kamm. Unterwegs begegnen wir einem drahtigen Mann, der seinen Paragleiter zum Roßkopf hoch schleppt. Er ist schon über 70 und bekannt als der erste Paragleiter in der Wildschönau. Nennen wir ihn Sepp. Während er vor uns beachtlich trittsicher aufsteigt, lässt er uns ein wenig an seinem Fliegerleben teilhaben. Stundenlang kann er oben bleiben und legt gewaltige Entfernungen zurück. Er meint, es sei das Fliegen wie die Frauen: immer anders aber immer schön. Sein gebräuntes Gesicht gibt 2 Reihen guterhaltener Zähne mit nur einer Lücke zum Lachen frei. Der alte Flieger verabschiedet sich freundlich und verschwindet mit seinen 20 Kilo Gepäck auf einer Abkürzung zum Roßkopf.
Was für ein Genpool. Bewundernd hecheln wir weiter der Japan-Markierung nach: Roter Punkt auf weissem Grund. Unterwegs informiert uns eine Tafel, warum die Wildschönau in ihrem Wappen einen Drachen führt. Der Legende nach soll das Tal einmal ein See gewesen sein, bewohnt von einem Drachen. Bauer kommt, erlegt Drachen. Drachen böse, zerhackt im Todeskampf einen Felsen. Der See kracht durch die Bresche ins Tal und schafft die Kundlerklamm. Damit nicht genug verbreitet sein verwesender Körper den Tod in Form der Pest, die nur ein einziger Mann überlebt. Eine Brixenerin ist es, die sich mit diesem einzigen Überlebenden verbindet und dafür sorgt, dass es mit der Bevölkerungszahl wieder aufwärts geht. Naja.
Der Drache wird wohl eine illegale Sprengung angesäuselter aber gieriger Edelsteingräber gewesen sein, dem ein kleiner Staudamm zum Opfer fiel. Dass der eine Klamm in die Felsen gebrochen hat, deutet auf eine Übertreibung wiederum angesäuselter Landbewohner hin, deren Haus nach dem Dammbruch leicht klamm gewesen sein mag. Auf jeden Fall zeigt sich, dass in einer Zeit, die noch nicht vom Unterhaltungskonsum verdorben war, noch aus jeder Begebenheit mit schier unbegrenzter Fantasie eine großartige Legende geschaffen werden konnte, mit der man noch heute Touristen aus allen Ländern beeindrucken kann. Und dies am besten, wenn sie ein leicht angesäuselter Talbewohner mit dramatischem Gefuchtel zum Besten gibt.

Über den Roßkopf erreichen wir endlich die Kashütte, nachdem wir unseren Proviant, 2 Walnüsse zur Gänze verbraucht haben. Herrlich gelegen über einer Großbaustelle für einen Teich, der einst Schneekanonen speisen soll, liegt diese Riesenkuhmaschine, aus der am Tag 3000 Liter Milch schiessen. An einer gewaltigen stinkenden Halle klebt die eigentliche Hütte mit ihrer Terrasse mit Blick auf die knatternden Bagger und dahinter das gewaltige Panorama bis hin zu den Hohen Tauern. Ein paar Wanderer pressen sich in die Schatten und verzehren die Jausen-platte und trinken dazu Bier oder Milch aus Plastikbechern. Schweren Herzens habe ich mich für die Milch entschieden. Der Wirt erklärt den Käse für gut gereift und wir können das bestätigen. Dennoch wandert mein Mitleid zur riesigen stinkenden Halle und ich muss an die Hühnerfarm in Chicken Run denken.

Sonntag, 11 Juli, 6 Uhr 37
Niederau

Jutta wird wach, als im Haus ein Mann gegen eine Tür pocht und „Sabiine“ ruft. Mir fällt Fred Feuerstein ein, der allerdings „Wiiilma“ brüllte. Welche Dramen spielen sich wohl um die beiden hübschen Töchter des Schilehrers ab?

Wir fahren nach Auffach, dem letzten Ort im Hochtal. Oberau schaut ganz nett aus, ein wenig strukturierter und mehr Ortskern als Niederau. Und viele wunderschöne Häuser. Immer noch suche ich nach Spuren der Thaler-Familie (die Brasilien-Auswanderer). Ein Platz trägt den Namen und der Name scheint überhaupt sehr verbreitet.

Mit der Schatzbergbahn erreichen wir den Schatzberggipfel. Ich frage einen Liftwart nach Sepp, dem Paragleiter, den ja laut Sepp jeder kennt. Tatsächlich kennt der Liftwart ein passendes Profil, das allerdings einem Leo gehört. Der soll zu Übertreibungen neigen, aber dennoch eindrucksvoll genug sein, dass man getrost die Hälfte seiner Geschichten streichen kann und immer noch einen tollen Leo vor sich hat. Jedoch mit seiner Ehe soll es weniger passabel aussehen (Infos unter: www.leolügt.com). Außerdem habe er auch eine Yacht, er sei auch Kapitän. Spätestens hier beginnen wir an seiner gesamten Leo-Geschichte und ihm selbst zu zweifeln. Ich beschließe, ab jetzt allen Einheimischen, und sähen sie noch so seriös aus, mit größter Vorsicht zu begegnen. Möglicherweise handelt es sich um ein interessantes kommunikatives Phänomen, das dem Tourismus entspringt. Der gewöhnliche Tourist neigt dazu, jeden Einheimischen für einen Experten in allen Dingen zu halten und entsprechend mit Fragen zu bombardieren. Noch dazu glaubt dieser Tourist von sich, dass nur er diesen guten Draht zu den Einheimischen hat, der ihm exklusiv diese Datenbank ins Herz der Region öffnet.
Der einheimische Superexperte allerdings wird permanent von jedem Touristen mit genau den gleichen Fragen konfrontiert. Um nicht zu einem lobotomen Auskunftsroboter zu werden, beginnt der Experte, Geschichten zu erfinden, und den erleuchteten Gesichtsausdruck des soeben belogenen Deppen so richtig zu genießen. Also merke: Leo lügt höchstwahrscheinlich.
Ein weiteres Beispiel begegnet uns beim 80 jährigen (wer weiss, ob der wirklich so alt ist) Wirt der Schatzbergalm. Jutta fragt immer nach dem Wetter. Er meint, sein Rücken sagt ihm, dass um 16.00 Uhr ein Gewitter kommt. Wir sollen an ihn denken. Jutta fragt noch: woher? Er: von Westen.
Beim Rückweg, vom Berg hinunter schaue ich immer wieder auf die sich zusammenballenden Wolken, die sich gegen 16.00 Uhr noch dazu bedrohlich verfinstern. Es kommt dann schließlich doch nichts und ich denke an den Hüttenwirt und seinen Rücken.
Auch die Drachenlegende fällt mir wieder ein.
Derzeit glauben ja die Deutschen an die Vorhersagen eines Kraken, der angeblich alle Spiele der laufenden Fußball-WM in Südafrika richtig vorausgesagt hat. Zwar nicht das Ergebnis aber immerhin den Gewinner. Wäre ich der Besitzer, ich hätte mich steinreich gewettet. Also wieder so ein Leo, der Lügner.
Die Leute wollen ihre Lügner.


Wir steigen ab. Die Bremsen wollen das verhindern. Sie umschwirren uns von Anfang an und sind anders als Gelsen schnell genug, dass sie uns folgen und in Ruhe die ergiebigsten Landeplätze aussuchen können. Kurz vor Thierbach steht eine kleine Kapelle am Weg. Ich öffne die Tür und sehe den winzigen Altar mit einer Schmerzensmutter und dem grausigsten Jesus, den ich bisher gesehen habe. Der ganze gekreuzigte Körper ist bedeckt von seltsamen braunen Flecken, die nach einer unheilbaren Hautkrankheit aussehen. Ein Gruselkabinett, ergänzt durch ein Totenalbum mit den Bildern von Verstorbenen. Wer noch nicht genug hat, findet weitere Tote auf einer Fotowand und Fotos, verteilt im gesamten Inneren der Kapelle. Was für ein Kult. Alles in diesem Tal scheint sich um den Tod zu drehen, oder hat da nur ein wirrer Leo seinen privaten Kultort verwirklicht, weil ihm fad war, einfach nur so in diesem herrlichen Tal zu leben.

Ich knacke 2 Walnüsse vor dem Gruselkabinett und esse einen Keks, huldige meiner Gottlosigkeit und folge meiner Frau nach Thierbach. Bei Gruber's Klingelhof kehren wir ein, und ich verspeise einen köstlichen, weil aus 3 Eiern frischbereiteten Kaiserschmarren. Bevor wir das immer noch kochende Auffach erreichen, genehmigen wir uns noch köstliche Walderdbeeren und ein kleines Bad im Wildbach. Nach den Erfahrungen der ersten Tage in der Wildschönau streichen wir die Dolomiten, die Cote d'Azur und das Rhonetal, weil eigentlich nichts diese Wildschönau toppen kann. Zudem ersparen wir uns jede Menge Attacken auf einer langen Autoreise und der Erde ein bisschen individuelle Abgase.


Und unsere Ferienwohnung behalten wir auch, denn sie ist perfekt in ihrer ökonomischen Bescheidenheit. Um den Entschluss zu besiegeln, kaufen wir endlich die Wanderkarte.


12.Juli
Inntalradweg

Ich habe mich ein wenig verrechnet. Von Wörgl nach Innsbruck sind es nicht 30 sondern fast 70 km. Und es ist wieder über 30 Grad. Ich halte das auf dem Rad ganz gut aus, aber Jutta macht einen etwas matten Eindruck und fällt immer mal zurück. So schleichen wir gegen den Wind und flussauf den gut gekennzeichneten zumeist asphaltierten Weg. Gegen Mittag fragen wir im Vereinslokal des Sportvereins von Jenbach, ob sie willens sind, uns zu bewirten. Ein mürrisches Ja macht es unnötig, schnell um die Mitgliedschaft anzufragen. Und so werden schon bald für uns Putenbrüste geklopft und anschliessend gegrillt. Der drahtige, sicher über 200 Jahre alte Platzwart hat indessen an einem Kasten gefummelt und es beginnt eine eindrucksvolle vollautomatisierte Bewässerungsorgie der Sandplätze, der nur noch die Unterlegung mit Händels Wassermusik fehlt. Im Inneren des riesigen Lokals spielt das Enkelkind mit einem ganzen Arsenal einer Spielzeugwelt, das einem Kindergarten genügen würde. Das Highlight der Sammlung ist ein Polizeimotorrad (Ist Papa Bulle bei der Soko Kitz?) mit Elektroantrieb. Mit dem kreischenden Geräusch unseres Küchenmixers nähert sich der Knirps der Schwelle zur Aussenveranda, auf der wir die Bunte Salatplatte zerzausen. An der Schwelle hält er an und schaut uns an. Er schaut uns an, wir schauen ein wenig zurück. Unglaublich charmant lächelt er plötzlich und schaut wieder. Irgendwann kommt Oma, knutscht ihn und hebt ihn weg. Sonst würde er vielleicht heute noch schauen.
Der Weg verläuft jetzt manchmal neben der Autobahn, die durch das gesamte Tal brüllt. Es reiht sich LKW an LKW, eine gewaltige Frachtlawine. Dazwischen schleppen sich Wohnwagengespanne, flitzen Motorräder und schnelle Limousinen. Auf der anderen Seite des Weges fließt träge der milchkaffeebraune Inn. Oft schwallt er, und davor wird auf Tafeln ausdrücklich gewarnt. Ein Berg reiht sich an den nächsten mit grauen felsigen Gipfeln.
Am Ende des Tales ballen sich inzwischen graue Wolkenmassen zusammen und es wird drückend schwül. Die Sonne sticht.
In Schwaz stellen wir entsetzt fest, dass wir noch 30 km vor uns haben und kaufen, da wir praktischerweise am Bahnhof stehen, Tickets nach Hall, um wenigstens 20 km zu erschwindeln ohne die Stadteinfahrt nach Innsbruck zu verlieren.
Stams, Imst, Schwaz, die Tiroler Ortsnamen begeistern uns. Fritzens Wattens gibt es tatsächlich. Und kurz vor Innsbruck gibt es Rum. Wir steigen aus und stellen fest, dass es auch Unterrum und Oberrum gibt. Am liebsten möchte ich in beiden ein wenig rumlaufen oder Rum saufen. Kann man in Rum baden? Oder in Rum wohnen? In Rum bauen? In Rum aufwachsen und zur Schule gehen?
Ich habe Rum gesehen. Ich gebe mir Rum. Um Rum kommt keiner rum.
Nach Rum kommt Innsbruck. Vorstädte und höllenlärmende Autos auf der Stadteinfahrt. Aus mit der Ruhe. Die futuristische Bahn zur Hungerburg ist heute ausser Betrieb. Ein Schild weist auf die Altstadt, aus der Massen von Touristen quellen. Und schon fahren wir vor dem goldenen Dachel ein und befinden uns mittendrin. Wie choreographiert, wandern digitale Kameras nach oben und wieder herab, tauchen Reisegruppen auf und gehen wieder. Dirigiert wird das ganze von einer Dame in Silber, die eine silberne Rose hält, dreht, hebt, senkt und damit alles lenkt.


Sie steht irgendwie auf einem Säulenfragment, an dessen Fuß ihr Dackel von der Hitze ermattet, platt auf dem Pflaster müde hechelt. Eine Sandlerin hebt eine Kippe auf und wankt weiter. Ein Mann posiert mit Silberfrau. Ihm fehlt ein Bein. Ein stark übergewichtiger Tourist dreht sich schwerfällig und eine mitleidige Geschäftsfrau holt den Dackel von Silberfrau, um ihm Wasser zu geben. Da fällt Silberfrau für kurze Zeit aus der Rolle und wechselt Worte mit Geschäftsfrau. Die Choreographie erbebt ohne die strenge Leitung. Unruhe und Chaos drohen. Mehrere sind bereits zusammengestossen, schauen sich hilflos an. Erstes Geschrei. Ein Fahrradbote rast heran. Der Mann mit der Beinprothese wankt und Wolken ballen sich gewittrig.


Doch Silberfrau ist wieder da. Die Rose dreht sich und übernimmt endlich wieder die Kontrolle.
Innsbruck scheint gerettet.
Als wir mit dem Regionalzug Innsbruck verlassen, sehe ich ein Gebäude mit der Aufschrift:
Kaiser Franz Joseph Jubiläums Greisenasyl


Dienstag, 13. Juli
Niederau

Die Zeitung kündet vom Tod des Josl Knoflach im 74. Lebensjahr bei der Ausübung seines geliebten Sportes.
Sistrans, Lans, Patsch, am 10. Juli (Wieder diese Namen!)
Ob wir ihn bald in der Gruselkapelle finden werden?
Jutta meint, er wäre tot vom Rad gefallen. Ich tippe auf Paragleiten. Leo?
Bitte um Verzeihung!

Da es heute nicht ganz so heiß werden soll, steigen wir direkt aus Niederau auf, um über einen Höhenweg bis zum letzten Ort im Tal zu wandern und von dort den Postbus zurück nach Niederau zu nehmen. Von Anfang an haben wir es mit ernst zu nehmenden Gegnern zu tun, die uns niederstechen wollen: Die Bremsen. Während der Autopilot die Beine steuert, ist der Rest damit beschäftigt, zu beobachten und zuzuschlagen, bevor sie zustechen. Und das in allen Höhenlagen des Körpers. Besonders lieben die Viecher meinen Bauch, sterben da aber am schnellsten und sichersten. Die sich die Waden ausgesucht haben, haben immerhin eine Chance, die ersten Schlucke zu erleben. Die Plage lässt schließlich nach und wir sind bereit, die nächste auf uns zu nehmen, und die hat einen Namen: Beton Fröschl. Die Firma mit diesem hübschen Namen baggert, kratzt, wühlt und bohrt am Berg im Auftrag der Wildschönauer Bergbahnen. Schwarze Rohre liegen bereit, um in den Gräben versenkt zu werden. Um uns röhren Motoren, LKWs und andere Baufahrzeuge versuchen uns zu töten, während wir nicht immer erfolgreich unseren markierten Wanderweg unter dem Bauschutt suchen. Endlich gelangen wir zum Ende der Baustelle und zur ersten Hütte.

Auf der Anton Graf Hütte bedient uns eine Blondine mit slawischem Akzent in einem schwarzen Baby Doll. Willie Nelson und Johnny Cash geben in einer wunderbaren Liveversion die Ghostriders in the Sky und Burning Ring of Fire. Unsere Schmalzbrote sind mehr als akzeptabel und ich genieße mein kühles Stiegl, während Jutta neben mir gegen einen schweren Rausch kämpft. Sie vermutet einen Anschlag der Wirtin (wir taufen sie Jelena), um sie auszuschalten. Dieser Radler, oder dieses? Radler enthält weit mehr Alkohol, als es sein sollte. Oder wirkt Alkohol in höheren Lagen stärker? Ich verliere auch ein wenig die Orientierung, als wir die Hütte verlassen und habe größte Mühe, den Weg zur Rossbachhütte zu finden. Warum sollen wir überhaupt dahin. Bei Jelena ist es doch auch schön. Was für ein teuflischer Zauber. Erst das Dröhnen von Fröschl Beton holt mich zurück in das konkrete Tirol.
Der weitere Weg ist der bisher schönste. Es geht durch den Wald, manchmal über kleine Stege und Stiegen, überall plätschert es und ist üppig grün.
Ein paar Leute mehr sind heute unterwegs, darunter auch viele Holländer. Jutta kreidet ihnen immer noch das brutale WM-Finale an.
Die Rossbachhütte gewinnt den heutigen Hüttencontest ganz deutlich wegen netter Bedienung, traumhafter Lage und gemäßigten Preisen bei gediegenen Speisen. Wir lassen uns die Zugspitze zeigen und gehen den letzten Teil bis nach Auffach.
Wir sind fast 7 Stunden unterwegs, als wir bei drückender Hitze im Tal ankommen, völlig verschwitzt und erledigt, aber glücklich.
Ich möchte zu gerne mehr über Fröschl Beton wissen. Handelt es sich um eine alteingesessene Dynastie oder zugereiste? Ist Fröschl Kunstsammler, hat er politische Ambitionen? Welchen Stil pflegt seine Frau? Schadet der Beton ihrer Beziehung, ist sie verhärtet?

14. Juli
Wildschönau

Wanderung über den Zauberwinkel nach Wörgl
Gegner: Die Sonne und die Bremsen
Ein weiterer Tag der Hitzewelle. Bis zu 36 Grad sind drin. Zauberhaft der Zauberwinkel, ein heimeliges, überschaubares Hochplateau mit ein paar Höfen. Ein wenig entzaubert wird das alles immer wieder durch Autos (siehe 10. Juli), die mit uns die Nebenstraße teilen sollten. Von hinten rasen sie heran und amputieren immer wieder die Arme von Wanderern, die nicht schnell genug ihre auf die Fahrbahn ragenden Teile einziehen. Das wird im Tal langsam zum Problem, weil es bereits über internationale Medien verbreitet wird. Wo bleibt da der Zauber, wenn man überall jederzeit mit dem Auto hinfahren kann? Zauber entsteht durch einen Überraschungseffekt. Man geht dahin, die Landschaft bewegt sich relativ dazu mit etwa 5 km/h an uns vorbei. Und plötzlich gibt ein Baum oder ein Haus oder ein Fels den Blick frei auf eine verwunschene Lichtung mit tanzenden Zwergen.
Aber: Vrooouuum, brüllt der GTI, hört auf mit der Spinnerei, die Erde ist erforscht, Zwerge gibt es keine und Geheimnisse und Überraschungen lieben wir nicht.
Und so erwarte ich auch keine langen spitzen Ohren, als uns die Hüttenwirtin nach unseren Wünschen fragt. Da es weder Espresso noch Cola gibt, trinken wir Johannisbeersaft gspritzt und Milch vom Hof, zauberhaft.
Ich verfehle den Zaubersteig, den aber möglicherweise ein Bann vor mir versteckt hält und wir landen am Kreuzweg nach Wörgl, weshalb ich etwas nörgl. Wieder einen Zauber verpasst. Dabei sah der ganz verlockend auf der Karte aus. Krickelkrackel zog sich der gestrichelte Pfad oberhalb einer Schlucht hinab ins Inntal und zumindest autofrei sollte er sein.
Als ich so hinunter hoppele bereits nach Station V der Leiden Jesu, höre ich hinter mir Jutta fluchen und sehe sie, als ich mich umdrehe wie ein Käfer auf dem Rücken liegen uns strampeln. Sie ist mit dem einen Bein ausgerutscht und mit dem ganzen Körpergewicht auf dem anderen Bein gelandet. Dabei hat sie sich das Knie verdreht.
Ich setze mich zu ihr und wir warten ein wenig, um den ersten Schock zu verdauen.
Ist es nicht zauberhaft, dass die nächste Station des Kreuzweges heisst: Jesus fällt zum ersten Mal.
Für Jutta ist es das zweite Mal. Gestern konnte sie sich gerade noch fangen, aber es war auch beim Abstieg. Tapfer steigen wir bis Wörgl ab und suchen uns ein Restaurant in der Stadtmitte. Wörgl ist schrecklich. Schrecklich laut und vom Autoverkehr praktisch erobert. Die Lebensräume der Fußgänger sind auf schmale Gehsteige beschränkt, die Übergänge allesamt gefährlich, weil die Einheimischen wie die Bekloppten aufs Gas treten und dabei telefonieren.
Es scheint auch ein Bedürfnis der Tiroler zu sein, ständig Maschinen in Betrieb zu setzen um die Stille der Bergwelt für immer ins Jenseits zu jagen. Während ich über die Hölle von Wörgl nörgel, reißt unter unserem Fenster der Autoverkehr selten ab, obwohl es sich um ein abgeschlossenes Tal handelt. Dazu haben sich eine Kreissäge und ein Rasenmäher gesellt. Wer bitte zersägt bei über 30 Grad in die abendliche Stille hinein einen ganzen Anhänger Holz ? Ein Terror-Tiroler. Einer von Vielen.
In Wörgl ist es auch nicht gelungen, eine Fußgängerzone zu schaffen. Die Autolobby muss so stark sein, dass wahrscheinlich nicht einmal Grüne auf die Idee kämen, etwas gegen den Lärm zu unternehmen, oder die Autos aus den Ortskernen zu entfernen. Andreas Hofer, Schutzpatron der Autofahrer würde sofort das Kriegsbeil ausgraben, wenn Stille um sich greifen würde, wenn keine Arme mehr abgefahren würden, wenn es irgend ein seltsamer Prophet und Spinner wagen würde, dem Auto die Freiheit zu beschneiden. Freiheit für das Volk durch ewig, freien Individualverkehr.
Station 12 am Kreuzweg wird bald heißen: Jesus stirbt beim Überqueren der Straße.
Und diese Station wird gespendet und montiert sein von Fröschl-Beton, dem wir auch die Straße verdanken, auf der Jesus starb.

15. Juli
Großglockner Hochalpenstraße

Nach Juttas Sturz ist Autowandern angesagt. Vorher wollten wir nochmal in die Mails schauen. Das kostet 1 €/10 min. im Hotel Schneeberger. Die Chefin ist allerdings so mies drauf, dass ich meine 2 € Münze nicht gewechselt bekomme und so verzichten wir. In grauer Vorzeit haben die Tiroler ihre Kohle damit verdient, dass sie Händlern auf der Durchreise Wegzoll abgenommen haben. Heute tun sie das gleiche auf dem Datenhighway. Ewige Raubritter.
Ein neuer Hit bei den Namen: Es gibt den Votzenthalerhof wirklich.
Der ganze Weg bis zur Hochalpenstraße: Stau, Baustellen und Raserei. Kitzbühel ist kaputt. Mittersill ist kaputt. Das ganze Salzachtal ist kaputt und Zell am See ist eine Wüste. Um alle größeren Orte kleben die gleichen Malls, überall nur noch Autos und mittendrin: Fröschl Bau!
Von Kitzbühel aus asphaltiert er alles und strebt nach der totalen Asphaltierung zuerst der Alpen und dann der ganzen Welt.
Auch die Glocknerstraße ist bestens asphaltiert. Aber so beeindruckend sie ist, monumental sind nur die Berge. Im 2. Gang tuckern wir nach oben und irren uns gewaltig, als wir meinen beim Fuscher Törl sei der Glockner erreicht. Von der fixen Idee besessen, da oben laufen zu gehen, beginne ich schon, mich umzuziehen, als Jutta mich überredet, mir nochmal die Karte anzusehen. Etwas widerwillig sehe ich den Irrtum ein und wir fahren noch einmal 20 km bis zum Franz Josephshaus. Gewaltig erhebt sich da ein Riesenparkhaus und ein Themenpark zur hochalpinen Welt mit Schautafeln. Mächtig thront gegenüber der Großglockner, der Gipfel verhüllt von einer Wolkenhaube. Unter uns der zurückweichende Gletscher, die Pasterze auf deren müdem Rücken Touristen wie Ameisen herumkrabbeln. Was für eine Wucht.


Im Restaurant essen wir Currywurst, bzw. Berner Würstel vor der mächtigen Kulisse der Glocknerwand. Anschließend trennen wir uns. Jutta bleibt ihrem Bein zuliebe, ich gebe mir eine Stunde zum Höhenlaufen. Vom Franz Josephs Haus gibt es einen Weg weiter hinauf, der teilweise durch Tunnel führt. In den Tunneln treiben Zwerge und Geister ihr Unwesen, wird gejodelt, aber auch ein wenig informiert über das Handwerk des Bergbaus. Die allgegenwärtigen Tropfen aus dem eisigen feuchten Fels fallen in Orgelröhren und verwandeln sich in Klänge. Eine kleine Meerjungfrau singt im klaren Wasser eines kleinen Sees. Steine flüstern. Etwas kurzatmig steige ich weiter und bemühe mich, einen guten Rhythmus zu finden.


Auf dem Weg hinauf verdünnt sich die gewaltige Menge an Gipfelstürmern zu kleinen Gruppen, Familien, Paaren und Einzelnen, die fotografieren, einfach nur schauen, beeindruckt schweigen.
Das Grundgeräusch ist ein leichtes, aber intensives Rauschen der vielen Silberbäche, die aus den Gletschern hoch oben austreten und in langen Fäden die steilen Wände hinunterstürzen. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grundrauschen von Städten, ist aber bekömmlicher.
Die Natur ist hier mächtig wie in der Arktis, unbeeindruckt vom winzigen Wirken des Menschen und seinem örtlichen Vertreter Fröschl Bau, der in tausend Jahren kaum sichtbare Spuren in dieser Welt hinterlassen würde. Es fällt mir schwer, umzukehren. Zu gerne würde ich diese Wucht einfach noch eine Weile auf mich wirken lassen, dem zarten Rauschen lauschen. Zurück laufe ich in der halben Zeit.
Jutta fragt die Mädchen, ob sie jeden Tag hier hochfahren oder übernachten. Sie fahren jeden Tag hoch.
Bei der Rückfahrt beginnt es zu regnen und es gewittert auch ein wenig. Ein paar Biker mit uralten Kisten aus Deutschlands Osten ziehn sich teils gutgelaunt die Regenklamotten an. Es schmerzt ein wenig, aus dieser ruhigen Welt, in der die Dimension Zeit durch schiere Masse unwichtig wird hinabzutauchen in den hektischen Abendverkehr um den Speckgürtel von Zell am See. Vom See sehen wir nichts, weil mittlerweile die Straße unter der Stadt durch tunnelt. Nach Saalfelden verfolgt mich ein psychopathischer LKW-Fahrer (=normaler Tiroler Autofahrer) fällt manchmal zurück, holt wieder auf und kommt dann immer wieder angeschossen, um in meiner Heckscheibe heftig abzubremsen. Er beliefert MPreis, eine Supermarktkette mit durchgestylten, schicken Läden.
Am wenigsten hält er es aus, wenn ich in Ortschaften weniger als 50 km/h fahre. In St. Johann schüttele ich die Nervensäge im Kreisverkehr ab.
Völlig erschöpft kommen wir so gegen 8 in der Wildschönau an. Wir sind fast 300 km gefahren.


Freitag, 16. Juli
Wildschönau

In der Tiroler Tageszeitung lese ich zum Frühstück einen lokalen Artikel:
„In nur drei Stunden ertappte die Tiroler Verkehrspolizei Mittwochabend 1592 Temposünder.
Besonders im Visier hatten die Beamten das Ortsgebiet, wo auch die meisten der schwächsten Verkehrsteilnehmer – Kinder, Fußgänger und Radfahrer – unterwegs sind. …
Nicht angepasste Geschwindigkeit sei nach wie vor die Hauptunfallursache, ... „
Mir wird klar, warum die Tiroler wie die Henker rasen. Um mit dem Tempo der globalisierten Welt mithalten zu können, d.h. wettbewerbsfähig zu sein, müssen sie sich doppelt so schnell bewegen, wie die anderen. Denn für gleiche Distanzen braucht man in den Bergen die doppelte Zeit, wie in flachem Gelände. Die Straßen führen hier durch eine 3-dimensionale Welt.
Zu jeder Distanz von A nach B kommt ein auf und ab und drumherum. Und der Tiroler versucht das ohne Zeitverlust. Das gilt auch für Lieferanten und Fröschl Baufahrzeuge.

Wir wandern getrennt. Von unserem Hausberg, dem Markbachjoch geht Jutta zur Kasalm und zurück. Ich möchte mich so richtig abrackern und renne auf das Feldalphorn (1923 m hoch, also etwas mehr als 500 Höhenmeter vom Markbachjoch). Der Wegweiser kündigt 3h an. Das geht schneller und zwar ohne Pause in strammem Marsch und Laufpassagen, wenn es flach oder bergab geht. So der Plan. Mit dem Gürtel schnalle ich mir eine Wasserflasche an die Hüfte, 3 Walnüsse warten in der Hosentasche auf den Gipfel. Es geht mir gut und ich genieße die Ausblicke und die Einsamkeit. Selten begegnet mir jemand. Nach weniger als 2 Stunden beginne ich mit dem Anstieg und werde von einem jungen Burschen überholt. So gedemütigt, halte ich dennoch mein Tempo, das mir eben noch gut tut. Na warte, wenn du älter wirst. Der letzte Teil ist recht steil und führt über den Grat zum Gipfelkreuz hinauf. Eine ältere Dame hält locker mit und meine Zweifel an mir mehren sich. Es kommen mir auch einige entgegen, nur Frauen. Kleine Wortwechsel tun gut und völlig verschwitzt aber zufrieden und gar nicht so erschöpft komme ich oben an. Da sitzt auch der Junge etwas abseits, futtert etwas und erholt sich. Mit einem Stein knacke ich meine 3 Walnüsse, rufe Jutta an, die gerade einen Germknödel verdrückt und wehre die Fliegen ab. Die ältere (sorry) Dame ist auch angekommen, verdrückt sich allerdings gleich wieder, weil sie an einer Wespen- und Bienenallergie leidet und die gerade am Gipfelkreuz eine Party feiern. Der Ausblick in alle Richtungen ist grandios. Auch Großglockner und Großvenediger zeigen ihre mächtigen weißen Spitzen.
Der Junge kommt vorbei und wir wechseln ein paar Worte auf Englisch, weil er Holländer ist und zudem nett. Auf der Karte tauschen wir ein paar gute Wege aus und verabschieden uns. Er geht weiter, ich zurück, weil: my wife didn't give me more time.
Flott hopple ich denselben Weg zurück und komme nach etwa 3 Stunden am Markbachjoch an.
Auf der Hütte bedient uns ein Kellner aus Dresden, der sich schon aufs Saisonende freut. Die Suppe mit Pressknödel (Wildschönauer Spezialität) und das Bier sind Weltspitze.
Wandervideo Wildschönau:

Samstag, 17. Juli
Wildschönau

In der Früh hat es kurz und kräftig geregnet. Die Blattläuse wandern wieder unter der Lifttrasse hin durch und wieder zurück. Vielleicht sind es auch Schafe, diese weißen Pünktchen.
Ich schaue auf Haus Wiesengrund. Von Haus Wiesengrund aus sieht man die Rückseite unseres Quartiers. Das Haus wirkt seltsam nüchtern. Auf den Balkons fehlen die Blumen und der übliche Schnick-Schnack. S. hat für sich und seine Frau neugebaut. Die beiden hübschen Töchter bekamen dieses Haus, das teilweise an Feriengäste vermietet wird. Vielleicht haben die Töchter andere Sorgen, als Blümchen pflegen. Ob sie noch regelmäßig zur Kirche gehen? Die jüngere ist Kindergärtnerin und sehr lebhaft. Die ältere ist nett, aber etwas stiller. Vielleicht planen sie die Flucht aus der Wildschönau, um dem Schicksal der Verheiratung, der Mutterwerdung und Dienstrolle als Frau in der Familie zu entkommen. Was für eine Rolle spielt der energische Vater?
Hilft er heimlich bei der Flucht, oder hat eher die Mutter Verständnis?
Ich sollte mal bei den Nachbarn recherchieren. Die wissen immer alles. Oder Jutta würde alles nur durch Beobachtung herausfinden. Dafür bräuchte sie allerdings mehrere Wochen, weil S. dichthalten. Also lassen wir ihnen ihre Geheimnisse.
Die Tiroler Männer sind rasante Autofahrer, brillante Schifahrer, lieben alle Maschinen, die Krach machen und die Natur in kleine Stücke hacken und neu zusammenschustern. Sie sind wüde Hund. Ein Auslaufmodell oder gerade richtig für Tirol?
Gestern auf der Hütte über Niederau saß einer den ganzen Tag und hat gesoffen. Er stänkert rum und pöbelt die Frauen an. Als wir nachmittag vom Wandern zurück sind, sitzt er immer noch und nervt. Sein Aggressionspotential nähert sich der roten Marke und als wir gehen, kommt er hinter uns her und brüllt „come on – come on“ Mir entschlüpft ein „Fuck You“. Er: „Was?“ Ich: „Fuck You“. Er torkelt, wie ein angestochener Stier los, ich sprinte. Eine Einheimische meint, er habe Probleme, Probleme mit Alkohol und mit sich. Hat der keine Maschinen zum Krachmachen?
Jutta liest mir aus der Todesanzeige von Gerold Becker ein Goethezitat vor. Mir schaudert und ich wend mich der ewigen Natur nach wohl bereitetem Frühstück zu. Wird nun der Dichterfürst missbraucht, um Missbrauch mit schönen Worten zu übermalen?
Unsere letzte Wanderung wird uns von Auffach zur Mittelstation der Seilbahn bringen. Jutta geht es gut und das Wetter soll bis zum Nachmittag halten. In Oberau halten wir bei einem putzigen Bäckereiladen, der sich als absolutes Fake herausstellt. Einzig das Haus und das Interieur sind urig und wertvoll. Das Backwerk ist die selbe Pampe wie in den Supermärkten, ohne Substanz, fluffiges Zeug, weder knusprig noch frisch. Alles ist vor gebacken und sicher vollgepumpt mit Konservierungsmitteln.Jutta fragt nach Dinkel- oder Hirseweckerln. Die gab es mal kurz, wurden aber nicht angenommen. Der Konsument will diesen Mist.
Seit unserer Ankunft sammeln wir mit dem Fotoapparat auch kleine Filmsequenzen. Dies beenden wir heute mit weiteren Beiträgen, die auch mal inszeniert sind. Ich könnte mir vorstellen, das dem Tourismusverband anzubieten, erstens meinen Film, zweitens das Konzept: Ich würde eine Saison lang eingeladen und würde in dieser Zeit anbieten, originelle Urlaubsvideos mit Gästen zu drehen, die dann auch auf der Website des Tourismusverbandes Wildschönau zu finden wären.
Einige Teile unseres Filmes würden wohl weniger gut ankommen, die vielen Autos, der staubende Laster auf der Alm. Das gehört hier allerdings ebenso zur Urlaubsrealität wie die herrlichen Wanderwege und Gebirgslandschaften.
Eine weitere Geschäftsidee kam mir gestern im Supermarkt. Eine deutsche Familie geht zu dritt einkaufen. Da wird um jeden Artikel gekämpft, jedes Angebot des anderen missbilligend niedergestimmt. Da werden Koalitionen gebildet, um das Radler doch noch in den Warenkorb zu kriegen. Und am Ende weint einer.
Man könnte anbieten: Ein Family-Coaching für den Urlaub. Verhaltensregeln, die einer Familie ermöglichen, ein paar Tage oder Wochen miteinander klarzukommen, ohne sich gegenseitig umzubringen, oder sich selbst zu verletzen.
Eine dieser Regeln beträfe den Einkauf. Immer nur getrennt einkaufen. Jeder kann seine Wünsche auf einen Zettel schreiben. Die Job des Einkäufers sollte rotieren.
Sprachliche Regeln können helfen, niemanden zu überfahren.
No Go Sätze wären demnach:
„Wohin wandern wir heute?“ oder „Wohin soll ich heute wandern?“ oder „Wohin wollt ihr heute wandern?“
Hier werden lediglich Verantwortungen im Kreis herumgeschoben. Jeder kann sich auf den anderen herausreden und die Gefahr wächst, dass sich Machtstrukturen bilden, die immer auch Unzufriedene hinterlassen. Jeder sollte einen Tag planen und dabei unterstützt werden. Meckerei ist nicht gestattet. Am Ende darf jeder bei einem Bierchen sagen, was ihm so gut an dieser Tour gefallen hat.
Es sollte an jedem 4. Tag jeder mal was ohne die anderen machen.
Und am Ende wird ein abwaschbarer Raum angemietet, in dem sich Alle mit Matsch bewerfen dürfen.
In der Zwischenzeit ist der Coach ausser Landes geflüchtet und hat seine Firma aufgelöst. Die gelinkte Familie ist so stinksauer auf ihn, dass sie sich wieder prächtig miteinander versteht. Es sei der gelungenste Urlaub seit Jahren gewesen, wegen dieses blöden Coachers.

Auf der Wanderung sehen wir einige prachtvolle Bauernhöfe, fast alle sind Biobauern. Kein Mensch ist zu sehen. Baden Biobauern?
Unser Tirolurlaub endet auf der Mittelstation mit einem fulminanten Essen und einem gestreckten Galopp zur Mittelstation, während bereits die Unwetterfront grummelt und erste dicke Tropfen fallen. In Innsbruck steht die Altstadt unter Wasser und es regnet kräftig in der Nacht.
Wir verlassen Tirol am Sonntag Richtung Vogesen.



Sonntag, 18. Juli
Orbey in den Hohen Vogesen

Die Fahrt von Tirol durch das Inntal war gekennzeichnet von einem weichenden Unwetter und einer wieder auferstandenen Sonne, die schon bald den Sommer und den Urlaub fortsetzte.
Wie kann man die Schweiz verpassen? Ganz einfach nicht beachten, links liegen lassen und denn Weg nach Colmar über Bodensee und Schwarzwald wählen. Insofern interessant für mich, als es die ersten Ziele von Urlaubsreisen aus meiner Kindheit sind. Ich befuhr den Bodensee mit einem batteriebetriebenen Plastikboot unter der Obhut meiner Patin und deren Mutter. Konstanz und Meersburg vereinte ich gerne mit der Fähre. Meine Erinnerungen sind rein anekdotisch und ich erwarte eigentlich nicht, irgendetwas wiederzuerkennen. So ist es auch. Die deutsche Seite des Sees über Friedrichshafen und Meersburg umfährt man auf einer einspurigen Bundesstraße, die vom breiten Fahrradrundweg flankiert wird. Und auf diesen beiden Adern hecheln ganze Familien, Renn- und Weitradler direkt neben der tosenden Landstraße mit ihren Bikern, Campinggespannen, Cabrios, Oldtimern, schicken Limousinen und den allgegenwärtigen Trucks. Das Ganze wirkt wie eine Fahrradkette, die sich unermüdlich um den See dreht, ein Glied am anderen. Gerne hätte ich mal nach Meersburg reingeschaut, ob da irgendetwas in mir klingelt, vielleicht beim Anblick der Burg, die mich als Knaben sicher am meisten fasziniert hat. Aber jeder Ausritt aus der Fahrradkette bedeutet, sich in lokale Staus zu verwickeln, in autogesättigten Städten mühsam Parkraum zu finden und das unter dem Lärm von Baustellen und öffentlichem Verkehr. Und dann ist man noch lange nicht da, wo man hinwollte.
Ebenso ergeht es uns im Schwarzwald am Titisee. Auch hier war ich als Kind und erinnere mich vage an den duftenden schwarzen Wald und den dunklen See. Auch bereits an Kitsch und Andenkenläden eines aufstrebenden Tourismus. Mir wurde ein Eichhörnchen geschenkt, dessen Schwanz ekelerregend stank.
Die Ausfahrt endet an einer Großbaustelle. Da wird eine Badeerlebniswelt für die ganze Familie hochgezogen, ein Monumentalbau des modernen Tourismus in Glas mit eingefangenen Landschaften. Kein Hinweis auf den Titisee, nur Ströme von überhitzten, abgespannt wirkenden Tourizombies, die sich zu den Parkplätzen wälzen. Angewidert wenden wir uns mitsamt unserem Fahrzeug ab und überlassen den Titisee den Untoten.
Durch das Höllental steigt die Bundesstraße hinunter ins Rheintal nach Freiburg. Vom einstigen Impetus, das Tal so zu nennen, weiss ich nichts. Heute würde ich Verkehr vermuten. Eine ununterbrochene Blechkolonne wälzt sich aus dem Wochenende zurück zu den Wohnplätzen. Der Wildbach unterliegt bereits dezibelmäßig. Und die Eisenbahn, die spektakulär in die Felswand geklebt wurde, entgeht mir fast völlig, denn der Zug ist der Leisetreter unter den Lärmquellen des Höllentales. Beim Hirschsprung finden wir ein Gasthaus, das uns bestens bewirtet. Wie ein Stein im Wildbach trotzt es dem strömenden Verkehr und wurde bis jetzt nicht weggerissen oder -gelärmt.
Es wird schwäbische Küche geboten, wie etwa Maultaschen von einem vermutlich türkischen Betreiber.
Meine Eltern mussten einmal im Höllental übernachten in ihrer Flitterzeit. Sie waren mit einer Vespa unterwegs und mein Vater suchte in einem Hotel am Titisee um ein Zimmer an. Die Schutzbrille hatte eine Maske aus Schmutz in sein Gesicht gezeichnet und seine gesamte Erscheinung wurde vom Hotelpersonal so eingestuft, dass er nicht zur Klientel des Hotels passt. Man verwies ihn aus dem Paradies ins Höllental, wo ihm dann die ganze Nacht der Wildbach ins Ohr brüllte, wohin ein Arbeiter gehört.
Durch das in der Nachmittagssonne kochende breite Rheintal springen wir von einem Schollengebirge zu seinem Zwilling en francais, den Vogesen. Dabei queren wir ein liberales, grünes Freiburg voller Studenten und Fahrradwege, aber auch voller motorisiertem Blech. Ein Hund mit Schutzbrille schaut aus einem Fahrzeugfenster. Sind die cool, die Deutschen. Colmar ist wie leergefegt, wirkt ärmlich und verwirrt mit Wegweisern in Toutes Directions. Es bewacht die Einfahrt ins Munstertal, von dem sich die kleinen Straßen in die Hohen Vogesen schlängeln. Als wir gegen 18 Uhr ins Tal einfahren Richtung Col de Schlucht, kommen uns hunderte Fahrzeuge entgegen, das exakte Spiegelbild des Höllentals. Auch hier strömen Städter zurück in die Wohnquartiere und lassen Wanderwege und Herbergen verwaist zurück. Schließlich bleibt der ganze Strom stecken und zwingt uns auf eine Nebenstraße, die sich abenteuerlich hinaufschraubt in fast unbesiedelte Wälder. Im Abendlicht ziehen die Kreuze eines Soldatenfriedhofs an uns vorbei. Weder Karte noch Hinweisschilder helfen uns, Müdigkeit weckt die Gier nach dem Quartier. Endlich eine erste Zimmerbesichtigung, ärmliche Kammern für mehr als 50,-€. Wir schleppen uns weiter zu einer netten Auberge mit Campingplatz, die leider belegt ist. Man schickt uns weiter und kurz darauf haben wir unser Zimmer im Hotel Domaine de Pairis, standesgemäß gutsherrenartig für 89,- €, dafür mit hellem Zimmer und weißgefliestem freundlichen Bad, Flachbild-TV und! endlich WiFi.


Montag, 19. Juli
Orbey, Vogesen

Ein Tag Vogesen. Auch dafür empfiehlt es sich, eine Wanderkarte zu erwerben. Die Wege sind an sich gut gekennzeichnet, aber es ist durchaus beruhigend, wenn man ein Bild der gesamten Wanderung vor sich und die Möglichkeit hat, Varianten zu gehen.
So langsam kann ich mir erklären, wo die Massen an den Wochenenden sich hier aufhalten. Es gibt wunderschöne Wälder, abwechslungsreiche, spannende Wege und beeindruckende Weitblicke.
Wir wählen die Seenwanderung, die für uns am Lac Noir beginnt, dann folgen Lac Blanc und Lac des Truites. Wieder drehen wir einen kleinen Film und distanzieren uns auf diese Art und Weise von uns selbst. Durch diese Methode kann man sich bei Wanderungen selbst begegnen und über sich etwas erfahren. Ganze Pulks kommen uns entgegen, aber auch Einzelgänger. „Bonjours“ wechseln den Besitzer. Wir grasen in den ersten Heidelbeeren. Der Weg ist teils felsig, teils Rotkäppchenwald, wie Jutta das nennt. Im Rotkäppchenwald erwartet man hinter jeder Wegbiegung, hinter jedem Gebüsch Märchenpersonal. Aus der Versunkenheit reisst uns die Sirene eines Einsatzfahrzeuges. Was kann da passiert sein auf diesen harmlosen Gipfeln? eine Verletzung durch Wolfsangriff? Brandwunde durch Hexenzauber? Oder im Restaurant gestolpert, verschluckt am Steak oder an der Gräte? Wohl eher ein Auffahrunfall auf dem Parkplatz am See, oder ein Arbeiter des Kraftwerkes hat in die laufende Turbine gegriffen.

Unser Restaurant ist im Winter die Bergstation des Schigebietes am Col de Calvaire. Uralte Liftanlagen bedienen etwas mickrige Pisten. Die mobile Menschheit rast mittlerweile in die nahen Alpen und lässt sich mit beheiztem Arsch und Windschutz auf richtige Höhen heben. Wir speisen üppig und ich trinke eindeutig zu viel teures Bier. Wir sind hier in Sichtweite des Schwarzwaldes, der mir urdeutsch vorkommt, während mich die Vogesen in den Süden versetzen. Diese Beschaulichkeit, der Mangel an kitschiger Überladenheit tun einfach gut. Es ist nichts Sensationelles dabei, auf dem Kamm vom Restaurant aus zum Lac des Truites zu wandern und doch kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als so dahinzugehen und in die Ferne zu schauen in das hügelige Mittelgebirge um uns. Der Boden fühlt sich gut an, hier auf Les Hautes Chaumes.

Den Abstieg zum Lac de Truites und den Rückweg zu den wunderbaren Räumen der Erholung unseres Hotels bewältigen unsere schwindenden Kräfte. Auf den letzten Kilometern Straße rauschen Peugeot, Citroen, Renault und Co an uns vorbei und ich wünsche mir, einer würde mal halten und uns mitnehmen. Doch das ist Rotkäppchenwald, reine Fantasie.
Dienstag, 20. Juli
Orbey, Vogesen, Musée Mémoriale du Linge
Die letzte Wanderung ist anspruchslos, dafür geschichtsträchtig, waren doch die Vogesen Schlachtfeld zwischen Deutschen und Franzosen in beiden Weltkriegen. Davon zeugen heute Gedenkstätten, ein Museum und Soldatenfriedhöfe. Unsere Wanderung beginnt am Parkplatz eines Museums. Zu sehen ist die Infrastruktur eines Stellungskrieges mit Schützengräben. Das hügelige Terrain ist angelegt wie der Bau überdimensionaler Maulwürfe. Alles, was der Mensch so zum Leben braucht, musste auch in diesen Grabenstädten existieren, von der Versorgung mit Nahrung, Post, Medizin bis zur Entsorgung. Man hat sich auf längeren Aufenthalt eingerichtet, obwohl der Einzelne wohl selten lange davon profitierte. Es war schließlich auch eine Schlachtmaschine, die von Offizieren und Generälen am Laufen gehalten wurde. Vom Zaun aus sehe ich einen Graben mit einer gepanzerten Stahlplatte mit Schlitz für den Schützen. Dahinter stecken Stangen mit Tafeln, die über die Anzahl dort gefundener Gefallener informieren.
Heute wirkt das alles so friedlich und ruhig, dass es schwerfällt sich das brüllende Inferno der Schlacht vorzustellen, das Heulen von Granaten, die Schreie Getroffener, das Geknatter der Maschinengewehre. Die Natur zeigt keine Wunden mehr, aber eine Schwere liegt über Allem, auch wenn Touristen mit Familien fotografierend in diesem Kriegserlebnisland herumsteigen. Schweigsamer als sonst folgen wir der Markierung, weichen Geistern zerlumpter Soldaten aus, die Deckung zwischen den Stämmen suchen, passieren einen der Friedhöfe, der mit stacheligen Reihen von eisernen Kreuzen gespickt ist. Da es wenig Aussichten auf diesem Höhenweg gibt, neigt der Wanderer zur geistigen Einkehr und tappt gedankenverloren über das einstige Schlachtfeld.


Nach 2 Tagen in den Vogesen sind wir völlig erschöpft in Saarbrücken angekommen.
Jutta vermeldet laut Saarbrücker Zeitung den Tod von Karl-Wilhelm Arnold Ernst Graf Finck von Finckenstein.


Wandervideo aus Orbey

Freitag, 23. Juli
Saarbrücken

Den Saarkanal begleitet ein Radweg, der bis zum Rhein-Marne-Kanal führt. Der ist meistens gut asphaltiert und hat den Vorteil, dass er ohne Steigungen den Kanal begleitet. Auf dem Kanal verkehren Hausboote und Yachten in beiden Richtungen. Zahlreiche Schleusen (écluses) heben oder senken die Schiffe auf den jeweils nächsten Abschnitt. Die Schleusen sind weitgehend automatisiert, sodass die Skipper lediglich einen Knopf drücken und durchfahren müssen. Heute gab es einen Defekt, weswegen der Schleusendienst mit warnblinkenden Fahrzeugen auf dem Fahrradweg herumraste, um die Fehler zu beheben. Die Boote saßen eine ganze Weile fest und ihre Insassen nützten die unfreiwillige Pause, um zu kochen, zu speisen oder ein Nickerchen zu machen oder zu lesen. Der Himmel ist bewölkt und die Wetterlage instabil. Wolken türmen sich, als wir flussauf radeln. Von Sarralbe radeln wir nach Mittersheim mit seinem Weiher, der ziemlich groß und für uns eher ein See ist. Nach etwa 35 km drehen wir um und fahren zurück. In Mittersheim essen wir im L'escale zu Mittag. Es ist ein recht hässliches Betongebäude mit einer etwas lieblosen Terrasse, die spärlich besetzt ist. Während wir unsere Menüs genießen, legt sich eine düstere Wolkenkappe über uns, und es beginnt zu regnen. Blitz und Donner folgen, der Wind wird heftig und der Regen prasselt. Wir sitzen fest und verziehen uns an den Tresen, um das Ärgste abzuwarten.

Inzwischen ist aus der Gewitterwolke ein dichter grauer Deckel geworden. Als der Regen schwächer wird, ziehen wir die Regencapes über und gehen die letzten 20 km nach Sarralbe an. Es ist ganz still und über dem Wasser des Kanals steigen zarte Dunstschleier auf. Wir haben Zeit und genießen die Strampelei. Das Wasser flimmert manchmal von Regentropfen und dem Wind und ich bin mit allem sehr zufrieden. Besonders freut mich, wenn ein Reiher neben uns aufsteigt oder wie eine Skulptur in der Wiese steht. Oder wenn wir Enten aufscheuchen, die dann den Kanal im Tiefflug entlang fliegen, um uns zu entkommen. Genugtuung bereitet es auch, Nacktschnecken mit dem Rad zu zerteilen. Es gibt unter ihnen auch rabenschwarz glänzende. Mich freut, dass mir das genügt, um zufrieden zu sein, als ich plötzlich mit dem Vorderrad in eine Rille einfahre, die mich gefährlich nahe an das Ufer leitet. Die Slow Motion zeigt, wie das Rad eintaucht und versinkt, während mir Flossen wachsen. Erstaunt nehme ich wahr, wie ich in das kühle Nass eintauche und sich meine Nasenlöcher sofort zu Schlitzen verengen, eine Schutzhaut über die Linse schlüpft und meine Atmung verflacht. Eigenartig ohne Panik bin ich unter Wasser bestens versorgt und mein Körper funktioniert. Rechts sinkt mein Rad mit der Fahrradtasche am Gepäckträger auf den nahen Boden und steht kurz da, als würde es ebenfalls umgestellt sein auf Funktionieren unter Wasser. Doch dann beginnt es sich zu neigen und kippt zur Seite lehnt sich gegen die Böschung und bleibt da liegen wie schlafend, so friedlich. Ein Brummen lässt mich den Kopf drehen. Getrieben von einem schaumigen Wirbel zieht da der Leib einer Yacht an mir vorbei, ein paar Fischlein hinter sich herziehend, die auf abfallende Nahrung warten. Ob mich jemand vermisst, ist mir im Moment egal, auch all die Dinge, die ich in den Hosentaschen mitführe und die die Umstellung auf Wasserleben gar nicht mitvollziehen. Ich krame ein wenig und finde mein Handy, dessen Display ein Aquarium zeigt. Mit den Füßen stoße ich mich vom Grund ab und schieße nach vorne, die Böschung mit den Augen abtastend nach Eingängen und anderen Besonderheiten. Regentropfen kräuseln die Wasseroberfläche, als ich das Mädchen sehe.
Sie scheint etwas vom Boden aufzusammeln, umfassend darauf konzentriert und äußerst geschickt. Was sie da abzupft verschwindet in einem Beutel. Ihr kurzes Haar hüpft auf und ab mit ihren Kopfbewegungen wie der Körper einer Qualle. Ich lasse mich zu ihr absinken, ohne dass sie darauf reagiert. Sie schaut nicht einmal kurz auf.
Seit ich geboren bin, werde ich von der Angst, verfolgt übersehen zu werden. Älter werdend, lernte ich immer besser damit umzugehen. Mein Verstand, mittlerweile gereift und mit zahlreichen Erfahrungen gespeist, erlaubte mir sogar, diese Angst in einen Vorteil zu verwandeln. Ich lernte, mich ganz gezielt unsichtbar zu machen und konnte so oft Gegner täuschen, deren Stärke sie blendete.
So beobachte ich die Sammlerin bis sie ihren Korb gefüllt hat und sich vom Boden abstößt. Mit grazilen Bewegungen folgt sie dem Kanal bis zu einer Aushöhlung im Ufer. Bevor sie darin verschwindet, wendet sie sich noch einmal um und entdeckt mich. Wenig erschrocken, eher belustigt und neugierig wartet sie. Wir schauen uns in die Augen, aufmerksam für eine kleine Ewigkeit, bis sie mir zuwinkt, ihr zu folgen. Die Öffnung führt schräg in die Tiefe und dann wieder hinauf. An der Wand sehe ich die Nummerntafel der Schleuse. Es ist die „14“. Wir tauchen in einem Gewölbe auf, das schummrig beleuchtet ist. „Ich bin Fanette“, sagt sie zu mir. „Du bist im Königreich von Roi Écluse XIV. Kein Mensch hat es bisher betreten, noch wird es einer verlassen. Ich werde dich dem König vorstellen.“
Wir treten in ein weiteres Gewölbe ein, in dem eine Freiheitsstatue aus Autoersatzteilen die gesamte Mitte einnimmt. Roi Écluse thront unterhalb auf einem in sich verschlungenen Wurzelgeflecht und würgt an einer Mahlzeit, die er mit den Fingern aus einer Schale fischt. Fanette stellt mich vor als einen ungeschickten Radfahrer, der vom Weg abgekommen ist. Der König schmunzelt jetzt und sein Bauch hüpft, als er kichert.
„Wir sind eine Untergrundorganisation im wahrsten Sinne des Wortes und bekämpfen das Übel an den Wurzeln. Viele unserer Mitglieder hatten Vorfahren in der Résistance.“ Le Roi bietet mir etwas aus seiner Schale an. Inzwischen ist Fanette irgendwo verschwunden, vielleicht um ihren Fang loszuwerden. In der Schale sind Nüsse oder etwas ähnliches, die anfangs sehr bitter schmecken, dann beim Kauen aber so etwas wie Kirschgeschmack entfalten. Ich schaue wieder zu Le Roi, der irgendwo unter seinem Thron ein Netbook herausgefummelt hat und damit wohl surft.
Er murmelt Dinge wie „Hab ich's nicht gesagt? Na ja, das war doch klar, Wahnsinn, die Irren, kein Wunder...“ und schließlich: „Na wartet!“ Zu mir gewandt: „Sie haben jetzt bei Baumaschinen die Teile entfernt, die die eigentliche Arbeit verrichten, Schaufeln, Greifer, Meißel und stellen sie nur noch auf, um irgendwo Lärm zu erzeugen. Der Lärm schüchtert die Leute ein, hält sie klein und lenkbar. Vorher haben das die Agenten erledigt, bezahlte Leute, meistens die lieben Nachbarn, ausgestattet mit allem, was Krach macht, Rasenmäher, Rasentrimmer, Trennscheiben, Schleifmaschinen, Hochdruckreiniger, “
Ich nicke etwas eingeschüchtert, aber er spricht mir aus der Seele.
Plötzlich springt Le Roi von seinem Thron auf und bedeutet mir mit einer ausholenden Handbewegung, ich möge ihm folgen. Durch eine niedrige Seitentür verlassen wir den Saal und folgen eine Minute lang einem Tunnel, der leicht nach unten abfällt. Die Wände glitzern silbrig unterbrochen von schwarzen Kohleadern. Nach einer Kurve öffnet sich eine riesige Halle mit einem Zeppelin, der mit zahlreichen Leinen an den Untergrund gepinnt vom ureigenen Auftrieb bewahrt wird, der ihn an das Gewölbe pressen würde.
„Unsere Arche“ verkündet Le Roi stolz, „wenn es soweit ist, werden wir damit unseren Arsch retten. Man kann ihn mit Sonnen- und Körperkraft bewegen, unabhängig von fossilen Fürzen, deren letzte bald geblasen sind.“
Eine prächtig geschmückte Dame mit Hut kommt uns entgegen und meint zu mir, ich solle nicht alles glauben, was der Alte mir erzählt, er habe eine blühende Fantasie. Le Roi funkelt sie zornig an, grüßt sie schließlich etwas gekünstelt und zieht mich weiter in eine noch gigantischere Halle. Sie enthält eine beeindruckende Sammlung von Straßenbahngarnituren aller Art, in allen möglichen Farben und jedes Alters.
„Und so weiter und so weiter. Das ganze geht bis unter die Hauptstadt (er meint wohl Paris) und gehört der Bewegung. Na, was sagst du?“
„Wie konnten Sie das alles schaffen, ohne dass irgendjemand da oben das mitgekriegt hat? Und wozu dient das überhaupt? Und wo sind die Bewohner?“
„Die Bewohner sind unterwegs, überall, wo es brennt. Oder sie bauen weiter am System. Da gibt es genug zu tun. Die meisten hängen aber vermutlich irgendwo rum und frönen ihrem wichtigsten Hobby. Und das heißt Zeit-Totschlagen. Diese ganze Unterwelt stellt das Gleichgewicht wieder her , das die da oben ruiniert haben. Die Beschleuniger sind das größte unbekannte Problem der menschlichen Entwicklung. Sie treten aufs Gas und berauschen sich daran. Mittlerweile sind sie süchtig. Das ganze Adrenalin lässt sie vor Kraft zappeln wie vollgefressene Maden. Sie missbrauchen die Wissenschaft, die Technik, die Ressourcen, um das Tempo immer mehr zu steigern. Der Höhepunkt ihres Glücks wäre, wenn die Erde so schnell rotierte, dass man wie bei einem Kettenkarussell durch Zeit und Raum geschleudert würde.
Ihnen ist es völlig gleich, ob das dem Planeten und seinen Bewohnern auf die Dauer bekommt. Sie profitieren von der beschleunigten Zeit, bereichern sich daran und zappeln weiter ihren Fette-Maden-Tanz. Wir können sie nicht direkt angreifen, dazu sind sie viel zu perfekt eingenistet. Würde man sie von ihren Wirten lösen, würden wohl beide eingehen. Sie waren auch schlau genug, nach einigen Revolutionen ihre Wirte an ihrem Profit zu beteiligen, sodass diese in einem Zustand betäubter Unaufmerksamkeit die Beschleunigung als naturgegeben hinnehmen. Unser Job ist es nun, hier unten die beschleunigte Zeit wieder einzubremsen. Allein die stehenden Straßenbahnen vermögen die gesamte Beschleunigung Frankreichs zu neutralisieren. Der nächste Saal kompensiert alleine Silicon Valley. Sieh mal!“
Wir verlassen die Strassenbahnen durch einen der Waggons, der wie eine Brücke einen Abgrund überspannt und in ein Labyrinth führt, dessen Wände vollgestopft mit Regalen alle möglichen Figuren beherbergen. Es sind Darstellungen von Menschen, aber auch Tieren und fiktionalen Darstellungen aus der Welt der Märchen und Sagen. Selbst von der Decke baumeln Hexen, Zauberer, Zwerge, Barbies oder Godzillas. Es müssen Millionen und Abermillionen sein.Fasziniert folge ich den Regalen, betrachte die Figuren und erfinde Geschichten, in denen sie ein Leben führen könnten und bemerke nicht, dass ich mittlerweile alleine bin. Und so mündet eine Geschichte in die nächste, lässt eine Figur nach der andren lebendig werden und Dinge treiben, die wiederum andere Dinge ins Rollen bringen. Und ohne dass ich es bemerke, wird meine Zeit langsamer und kommt schließlich völlig zum Stehen. Figuren und Geschichten treiben an mir vorbei wie Fische im Wasser, Fische im Wasser...
Ich muss plötzlich husten und spucken, irgendetwas mit meiner Atmung stimmt nicht. Habe ich mich verschluckt? Und was ist das für eine Hand, die da auf mich zukommt? Ich ergreife sie und spüre einen Zug nach oben. Als ich die Wasseroberfläche durchstoße, sehe ich in Juttas besorgtes Gesicht.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, alles klar soweit“
„Weisst du, wielange du da unten warst?“
Mit dösigem Kopf winke ich ab und melde mich zurück in der Oberwelt.
Ein Boot fährt vorüber. Es heisst „Fanette“.